1. Herren | Westfalen Blatt (JÖRG MANTHEY) | 14.05.13
Von JörgManthey
Bielefeld(WB). Die TSG A-H Bielefeld blickt auf eine turbulente Rekordsaison in der 3. Handball-Liga zurück. Weil die ständig neu aufflackernde Verletzungsseuche immer wieder personelle Akquise einforderte, haben letztlich vier Torhüter und 17 Feldspieler am Unternehmen Nichtabstieg mitgewerkelt. So einen aufgeblähten Kader hat es selbst zu Zweitligazeiten nicht gegeben.

Doch diese Mannschaft war der Star, »und wir haben wirklich jeden Einzelnen gebraucht«, stellt Michael Boy rückblickend fest. Schwärmerisch verliert sich der Spielertrainer im Konjunktiv. »Hätten wir in jedem Spiel solche Emotionen und Einstellung gezeigt wie am Samstag beim 31:28 gegen Uerdingen – wer weiß, was aus uns geworden wäre.« Im letzten Spiel sei auch der Spaß wieder erkennbar gewesen. »Da sind nach gelungenen Aktionen alle mit einem Lächeln zurückgelaufen«, sagt Coach Tobias Fröbel.

Das erste Ausrufezeichen, der 36:23-Überraschungscoup über ART Düsseldorf, spülte die TSG am ersten Spieltag auf den ersten Platz. Diese schöne Momentaufnahme war der Auftakt zu einer langen Rutschpartie, die talwärts führte bis auf Rang 13. Die ursprünglichen Bielefelder Planungen, die einen Florian Korte, Marcel Ortjohann oder Tobias Fröbel als Leistungsträger vorsahen, waren rasch Makulatur. Stattdessen folgte unvermutet Improvisation für Fortgeschrittene. Ob ohne gelernten Kreisläufer am Kreis oder ohne Linkshänder im rechten Rückraum . . .

Solche Zwänge waren Stress pur und erzeugten Stimmungsschwankungen. Ex-Coach Micky Reiners hatte seine Aufstellung mal mit einem »Puzzle für Vierjährige« verglichen. »Mit sechs Teilen.« Physiotherapeut Karsten Keller, dessen Fähigkeiten außerordentlich gefordert wurden, beteuert: »Es lag nicht an der Trainingssteuerung, sondern war einfach nur Pech. Und dafür haben wir es sogar noch ganz gut hingekriegt.« Aktuelles »Sorgenkind« ist Jannik Rauchschwalbe (Zyste in der linken Schulter). Der Linkshänder soll zeitnah einen Spezialisten konsultieren.

Wie wertvoll die Dynamik eines Marcel Ortjohann für die TSG-Durchschlagskraft aus der Distanz ist, hat sich nach dessen Comeback gezeigt. Die TSG war wieder schwerer ausrechenbar, und so blühte auch »Dauerbrenner« Johannes Krause auf der Königsposition neu auf.

Michael Boy vergisst in seiner Rückschau nicht, Vorgänger Reiners zu würdigen. »Er hat die Mannschaft immer super eingestellt. Alle waren physisch auf einem hohen Level.« Kollege Fröbel ergänzt: »Ein ganz eigener Trainertyp. Doch er hat jeden Einzelnen weitergebracht.« Bis zum Tiefpunkt, dem frustrierenden 25:39-Heimdebakel gegen den VfL Gladbeck. »Das war eine bittere Lehrstunde für uns alle. Ich habe mich einfach nur geschämt«, sagt Daniel Meyer, der auf seine bislang stärkste Saison im TSG-Dress zurückblickt. Mit 187/66 Treffern schließt der flinke Linksaußen als fünftbester Schütze der Liga ab. Meyer wird mit 26 Jahren übrigens der älteste Spieler des neuen TSG-Jahrgangs sein. »Nicht nur der Dienstälteste, auch noch der Älteste. Wer hätte das gedacht«, sinniert er.

Das Gladbeck-Drama beinhaltete bekanntlich einen spontanen emotionalen Prozess und als Konsequenz daraus den Abpfiff für Micky Reiners. Der Schlussakkord steht immer noch aus. Für Mitte Juni ist das juristische Nachspiel terminiert. Ist Reiners zurückgetreten oder freigestellt worden – darüber und damit auch über die Höhe der ausstehenden Vergütung an den Ex-Coach muss ein Gericht befinden.

Acht Wochen in der Verantwortung, zwei Siege aus sechs Spielen – Michael Boy hat nach dem fließenden Übergang Lunte gerochen. »Trainer: Das ist auf jeden Fall ein Weg, den ich mir vorstellen kann«, sagt der künftige Mittelmann des Oberliga-Aufsteigers TuS Möllbergen. Vielleicht gibt's ja mal ein Wiedersehen.

Publikumsliebling Benjamin Richter (Longericher SC), der an der Sporthochschule Köln im dritten Semester Sportmanagement und Kommunikation studiert und sein Zweitspielrecht voller Freude fortsetzt (»Die TSG liegt mir am Herzen«), macht in Bielefeld noch ganz andere Zukunftsperspektiven aus. »Vielleicht werde ich ja irgendwann mal der neue Manfred Quermann«, grinst er schelmisch.

Kommentar

Die TSG A-H Bielefeld wird in der Serie 2013/14 erneut zum Kreis der 100 besten Vereine Deutschlands gehören. Dann mit einer extrem jungen Mannschaft. Trainiert von einem Mann, der im Männerbereich auf diesem Leistungsniveau seine Premiere gibt.

Diese Mixtur verspricht wieder ein Abenteuer, Abstiegskampf und womöglich auch mal Krampf. Fest steht jedenfalls: Das Verletzungspech 2012/13 hat für drei Spielzeiten gereicht. Es bleibt Bernd Schramme und seinem Fohlenstall zu wünschen, dass derlei ausufernde Ausfallerscheinungen diesmal ausbleiben.

Doch nicht nur auf sportlichem Terrain wartet auf die TSG eine Herkulesaufgabe. Das Image des Handball-Platzhirsches benötigt eine Frischzellenkur. Dem Verein ist zu wünschen, dass die nötigen Umstrukturierungsmaßnahmen im Umfeld zugleich jene neuen Wege, jene Professionalisierung und jene öffentliche Wahrnehmung gebären, die es braucht, um einen Drittligisten auch wirtschaftlich – und vor allem nachhaltig – mit Perspektive auszustatten. Für flankierende Produktwerbung ist die neue Mannschaft zuständig. Mit Herz. Mit Leidenschaft. Mit Siegen.

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