1. Herren | Westfalen Blatt (JÖRG MANTHEY) | 19.03.13
Von Jörg Manthey
Bielefeld (WB). Am Tag danach waren alle um Schadensbegrenzung bemüht. Insbesondere Micky Reiners, der noch am späten Sonntagabend eine Rund-SMS an die Mannschaft versendet hatte. Der rücktrittswillige Trainer des Handball-Drittligisten TSG A-H Bielefeld entschuldigte sich für seinen öffentlichen Frustabbau nach der 25:39-Demontage gegen den VfL Gladbeck.

»Ich trage mein Herz nun mal häufig auf der Zunge und habe ungefiltert alles rausgelassen. Dabei habe ich eindeutig über die Strenge geschlagen. Die hohe Schule der Diplomatie ist nicht meine Stärke. Hier habe ich noch enormes Entwicklungspotenzial«, meinte Reiners zerknirscht. »Ich hätte meinen Sohn Jari auf dem Arm behalten sollen.« Seine »verbale Inkontinenz« tat ihm am Montag leid. »Ich habe wie bekloppt gelitten und würde die Zeit gerne zurückdrehen. Das geht leider nicht. Die Jungs sind zurecht enttäuscht von mir. Ich bin es von mir auch.«

Schockstarre! Das war am Sonntag das überwiegende Gefühl bei den Protagonisten, die auf dem Feld in sämtliche Einzelteile zerfielen. »Das war Verunsicherung pur. Ich habe mich zwischendurch gefragt: Was geht denn hier ab? Unser Aktionismus ist dann in die falsche Richtung gegangen. Wir hätten noch zwei Tage spielen können, und es hätte sich nichts geändert«, meint Michael Boy kopfschüttelnd. Reiners' verbale Steinigung prallte beim scheidenden Kapitän nicht einfach so ab. »Das ein oder andere habe ich in 20 Jahren Handball nicht gehört.«

Thorben Lommel räumt ein, vom Spiel »mehr als schockiert« gewesen zu sein. »Das war so eine Grottenleistung – da kann kein Trainer der Welt etwas dafür«, sage der Vize-Kapitän. »Ich war wie in Trance und stand kurz davor, eine Dummheit zu tun.« Er brach eine Lanze für den machtlos dastehenden Micky Reiners, dessen taktisches Eingreifen wirkungsfrei verpuffte. Lommel: »Jeder Spieler sollte sich einmal hinterfragen, ob das, was er in den zurückliegenden Wochen abgeliefert hat, sein Bestes war. Ich behaupte Nein. Das war definitiv zu wenig von uns allen. Ich vermisse eine Konzentration auf das Wesentliche.« Micky Reiners habe von der Mannschaft vor dem Gladbeck-Spiel eine einzige Reaktion verlangt, und die sei komplett ausgeblieben. Ohne den Wutausbruch des Trainers beschönigen zu wollen, gibt der Linksaußen zu bedenken: »Wenn jeder Einzelne das tut, was er tun soll, funktioniert auch das gesamte Konstrukt. Wir machen als Mannschaft Woche für Woche Fehler und bekommen jedes Mal eine neue Chance. Ich finde, der Trainer hat diese Chance genauso verdient.«

Tobias Fröbel »als Außenstehender« findet, »dass Micky Reiners nach wie vor ein gutes Training und eine gute Spielvorbereitung macht. Manche seiner Aussagen waren aber arg grenzwertig. Das hat Unruhe erzeugt«, so der verletzte Kreisläufer. »Es wäre echt cleverer gewesen, er hätte uns in der Kabine angeschrien statt vor der ganzen Halle.« Die Mannschaft ist – irgendwie – um Wiedergutmachung bemüht. Bei Zuschauern, Fans, Sponsoren. »Wir wollen eine Reaktion zeigen. Nicht nur auf dem Platz«, beteuern Boy und Lommel unisono. Wissend, dass es sich nur um eine Geste handeln kann.

Geschäftsführer Manfred Quermann telefonierte am Montag viel herum, um ein Stimmungsbild des Umfeldes zu puzzeln. Sein Bemühen: Risse zu kitten, wo sich denn welche aufgetan haben sollten. »Sofern das möglich ist. Micky Reiners ist kein Bösewicht seit Sonntag. Er hat eine Chance verdient. Dem Vorstand obliegt das Gesetz des Handelns. Geht es nur nach mir, ziehen wir die Saison bis zum Ende mit dem Trainer Reiners durch. Das werde ich jedoch nicht gegen ein anders lautendes Votum der Spieler durchsetzen.«

TSG-Chef Heinrich Rödding wirkte am Nachmittag »zwiegespalten. Ich habe da noch keine klare Meinung, weil inzwischen so viele Dinge auf mich einprasseln. Mein Wunsch ist, eine Lösung zum Guten zu finden.« Der Mannschaftsrat kam gestern vor dem Training zur Beratung zusammen, im Anschluss ließ die große Runde den Sonntag nochmal Revue passieren. Auf Bitten der Geschäftsführung blieb Micky Reiners daheim in Münster. Sollte das Team in dieser Krise ein angeknacktes Grundvertrauen und sich gravierend gegen Reiners aussprechen, gäbe es für die restlichen sechs Partien zwei denkbare Lösungsansätze. Einen internen, etwa mit Spielertrainer Michael Boy und einem Coaching Tobias Fröbels von der Bank. Oder eine vorzeitige Inthronisierung Bernd Schrammes, der ebenfalls Augenzeuge des Fiaskos war. Schramme stünde als Feuerwehrmann bereit. »Wenn Manfred Quermann mich anruft und fragt, dann mache ich es«, erklärte der Bückeburger gestern. Um anzufügen: »Natürlich war das eine ziemlich ernüchternde Vorstellung. Doch solche Tage gibt es im Handball. Ich würde es Mannschaft und Trainer wünschen, dass sie die Geschichte gemeinsam zu Ende bringen.«

Kommentar

Leidenschaft schafft mitunter Leiden in der Schule des Seins. Für den Reifeprozess des Trainers Micky Reiners könnte die sonntägliche Lektion, die unmittelbare Begegnung mit seinem inneren Kritiker, ein Meilenstein gewesen sein. Wenn die Endorphine das nächste Mal Blasen schlagen, mutiert der gewiefte Taktiker auf dem Feld vielleicht zum diplomatischen Taktiker mit Worten - oder bremst sich in ähnlichen Situationen lieber selber aus, in dem er stumm bleibt. Seine Vita wird der unkontrollierte Vulkanausbruch nicht belasten. Dass Reiners Handball-Sachverstand auszeichnet, hat sich in höheren Gefilden herumgesprochen. Womöglich betritt er sogar in der neuen Saison die Bundesligabühne. Nach Informationen dieser Zeitung hat Zweitligist Eintracht Hildesheim dem Münsteraner ein Angebot unterbreitet.

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